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Fast ein Jahr Pandemie liegt hinter uns. Entgegen der ursprünglichen Hoffnung, dass wir nach einem viertel oder halben Jahr zu unserer „Normalität“ zurückkehren, zeigt sich: Corona ist gekommen, um zu bleiben. Corona bedeutet eine Zäsur vom Zusammensein als Gesellschaft, Familie und Beziehung, wie wir es kannten. Corona ist der Katalysator für eine Wandlung, die wir so noch gar nicht überblicken können. Corona zwingt uns zu Veränderung, ob wir wollen oder nicht.
Wir haben im Persönlichen und im Gesellschaftlichen so ziemlich alle bekannten Phasen von Trauer aufgrund von Änderung durchlebt.
- Den Schock und die Starre des ersten Lockdowns.
- Das Verleugnen, dass es uns tatsächlich getroffen hat und uns als Gesellschaft nachdrücklich verändern wird.
- Die Wut – sei es über die Maßnahmen, Mitmenschen oder über die Veränderung an sich, die wir nicht aufhalten können.
- Das Verhandeln und Diskutieren sowie das Festklammern und Auseinanderbrechen von gesellschaftlichem und persönlichem Konsens und der Versuch mit altbekannten Mitteln, die Krise zu bewältigen.
- Die Depression, dass dieser Cut und die dadurch angestoßenen Prozesse, nicht mehr rückgängig zu machen sind und uns als Gesellschaft grundsätzlich verändern. Ein Zustand des späten Herbstes 2020, in dem wir weniger kämpfen, aber eben auch die Müdigkeit und die Trauer, der Überdruss deutlich wird, die Hoffnungslosigkeit und die Redundanz der Diskussion und Maßnahmen.
- Und vielleicht berühren wir in diesem Winter langsam die Akzeptanz. Dieses Jahr hat uns verändert und der Umgang mit Corona fordert uns als Gesellschaft Unglaubliches ab. Finanziell, Zwischenmenschlich und direkt aufs Leben bezogen.
Für mich liegt in der Akzeptanz auch die Würdigung. Die Würdigung der Menschen, die unter der Krise am Meisten leiden: die Alten und die Kinder, die Armen, die Kranken, die Personen, die Berufe an und in derzeitigen Brennpunkten haben und die Menschen, die unverschuldet ihre berufliche oder persönliche Existenz durch die Maßnahmen verloren haben bzw. noch verlieren werden.
Mein Blick richtet sich auch auf die Toten. Die Toten aufgrund von Corona und die „Kollateralschäden-Toten“ – die aufgrund von Armut, Hunger, Überarbeitung, Angst, nicht erkannten Krankheiten, verschobenen Operationen und auch durch Selbstmord gestorben sind. Zählt noch der Sterbe-Grund? Sie haben es nicht „geschafft“. Die Art des Todes und die Zurechnung zu einer Gruppe ist nicht mehr ausschlaggebend. – Am Ende bleibt das Betrauern und Würdigen der Verletzten von Körper, Psyche und Geist und der Toten an sich.
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Wenn wir Corona auf diese Weise begegnen und das Ausmaß des Jahres ganz in den Blick nehmen, bleibt uns nur die Demut, das Verneigen vor den Schicksalen aller Menschen dieser Zeit.
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Aus dieser Akzeptanz und Würdigung heraus kann und darf der gesunde Impuls nach Veränderung und Handlung entstehen.
Corona bedeutet und fordert Wandlung auf allen Ebenen, im Persönlichen, im Gesellschaftlichen, in der Kommunikation, in Beziehung und grundsätzlich in unserer Herangehensweise ans Leben. Wir wissen das! Zumindest ahnen wir es. Wir kommen um die persönliche und damit verbunden gesellschaftliche Veränderung nicht herum.
Wie wir Solidarität und Gemeinschaft gelebt haben und auch in der Krise leben, ist zutiefst schädlich für unser Zusammensein. Die Art unserer bisherigen Handlungen und Maßnahmen ist nicht nur fürsorglich, unterstützend und rettend sondern gleichzeitig auch ausgrenzend, dysfunktional, grausam und verachtend. Wie können wir uns nur anmaßen, das eine Leben gegen das andere abzuwägen? Wer sind wir als Gesellschaft, wo ein Lebensglück mehr gilt als ein anderes? Wer kann überhaupt entscheiden und darüber werten, was der „richtige“ Weg ist? Genauso wie die Freiheit des Einzelnen an der Fürsorge und Zugehörigkeit zur Gruppe endet – stellt sich die Frage, wie viel darf die Gruppe vom Einzelnen fordern? Welche der vielen verschiedenen Belange einer Gesellschaft hat Recht und wie wird dieses Recht ausgeübt?
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Corona ist die Therapie für Gesellschaft, die ihre Werte und Wurzeln nicht mehr kennt und nicht mehr im Sinne aller pflegt. Corona ist auch das Ausbrechen des Kollektiven und der kollektiven Wunden aus dem Unbewussten.
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Nicht ohne Grund befinden wir uns heute in einem Spiegelwerk von Kriegsrhetorik, rechtsradikaler Phänomene und gleichzeitig – auf beiden Seiten – verzerrtem Framing von geschichtlichen Vorkommnissen. Es ist der Hinweis auf die kollektive Wunde von damals. Das damalige Grauen anzuerkennen und zu würdigen, ist uns nicht im Ganzen gelungen. Und es ist nur EINE Erinnerung aus dem kollektiven Feld. Da ist noch viel mehr Geschichte und kollektives Schicksal.
Um das zu verstehen, muss man verstehen, was das Kollektive ist. Im Kollektiven ist alles abgelegt, was wir als Gesellschaft bzw. Gruppe jemals erlebt haben. Alle Kriege, jegliche Gewalt, Schmerz, Trauma und Schicksal, jegliche Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Moral und ihre Folgen. Alles ist im kollektiven Feld abgespeichert und als tiefe Dynamik und Strömung in uns verankert. Das Kollektive ist wie ein tiefes Moor auf dem wir stehen und dessen Bewegungen uns entweder straucheln lässt oder uns vorwärts treibt. Wenn uns dieses Moor einsaugt und der Tod wahrscheinlicher wird, ist ein Kämpfen kontraproduktiv und ein Besinnen, Langsamkeit und Hilfe notwendig.
Unser derzeitiges gesellschaftliches Agieren und unsere Kommunikationsmuster sind ein Ringen und Kämpfen gegeneinander. Es geht um die Interpretation und das Hoheitsrecht, was im Fokus stehen darf und was ausgeschlossen werden soll, um zu überleben. Doch dieser Kampf ums Überleben führt letztendlich auch zu Tod. Zum Tod Einzelner und zum Tod von Gesellschaft und Zusammenhalt an sich.
Das „Kranksein“ und die Ungerechtigkeit, wie sie sich aktuell im Gesellschaftlichen zeigt, nähren sich zur Zeit gegenseitig und werden zusätzlich angefeuert durch den kollektiven Urgrund von Schmerz, Tod und Krieg und durch eine dysfunktionale, manipulierende, intransparente Kommunikation. Keiner von uns kann sich da ausnehmen. Im Außen wird nur sichtbar, was in uns allen angelegt ist. Wie innen so außen. So gilt auch: Das, was wir uns im äußeren Miteinander wünschen, kann nur durch innere Veränderung kommen.
Das Kollektive sagt „Ich kann nichts ausschließen!“
– Dieser Satz scheint mir essentiell und grundsätzlich für unseren Umgang mit diesem Phänomen und unserem Umgang als Gemeinschaft im Heute. Wir können nichts ausschließen. Wir können nichts ausschließen! Auch wenn wir nicht wissen, was dann passiert. Was es braucht, ist: Zustimmen, würdigen und zutiefst anerkennen und uns dann verbeugen, vor dem, was größer ist als wir selbst und alles einschließt. Das kann sich „spirituell“ anfühlen, aber Spiritualität greift hier zu kurz.
Eingebunden sein ist Fakt!
Nicht Untergang, nicht Wahn, nicht zusätzlicher Firlefanz für Menschen, die nach astralen Lösungen suchen. Eingebundensein, verweist auf unseren Ursprung im Gesamten und dem Eingebundensein in den Kontext von Leben und Tod, von Existenz an sich. Es besteht eine tiefe Notwendigkeit, das Kollektive und die eigenen Geschichte zuzulassen und anzuerkennen.
Nur in dem wir diesen Zusammenhang zulassen können, ist Veränderung aus sich heraus möglich. Erst wenn wir das „Große“ zulassen und klar zu uns selbst und mit uns selbst sind – auch anerkennen, dass wir derzeit massiv unterdrücken, werten und ausschließen, bis hin zur Diskussion, wer stirbt und wer nicht – kann Lösung entstehen.
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Im Anerkennen des Eingebundenseins entstehen Raum und Lösungen, jenseits von (Überlebens-) Kampf und Wiederholung.
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In Aufstellungen zum Thema Corona zeigt sich auch immer wieder deutlich das dysfunktionale, verletzte Agieren von weiblichen und männlichen Aspekten. Das Weibliche ist verletzt, bedürftig und ohnmächtig. Das Männliche ist übergriffig, hochschießend, maßlos und rücksichtslos. Und damit meine ich nicht Mann und Frau – obwohl es sich natürlich auch im Umgang der Geschlechter miteinander zeigen kann. Es geht um den Ur-Aspekt von Weiblichem, das Nährende, dass uns in Gemeinschaft und Persönlichem zur Zeit nur verletzt und fehlend begegnet. Und es geht um den Ur-Aspekt von Männlichem, das Handelnde, dass in der derzeitigen Kommunikation und Aktion als Rücksichtslosigkeit, Manipulation und Machstreben aufscheint. Der fließende Kontakt von Ying und Yang, Männlich und Weiblich, fehlt und ist ersetzt durch ein Nebeneinander stehen und, dadurch bedingt, gegeneinander Kämpfen.
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Die Hinbewegung von Weiblichem und Männlichen, das Sich-Wieder-Begegnen, Voneinander-Lernen und Sich-gegenseitig-Stützen und Inspirieren, bedeutet im Kleinen und im Großen Heilung.
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Der Einzelne und der persönliche Raum, dürfen sich für Schutz, Geborgenheit und Nährendes öffnen. Die Kommunikation und Massnahmen dürfen wieder klar, ehrlich, aufrichtig und transparent, dem Weiblichen dienen. Dann entsteht ein Zusammenhalt, der über die Gesellschaft hinaus, auch die Kraft einschließt, aus der wir alle im wahrsten Sinne schöpfen.
Das Kollektive Feld und Corona wollen als Phänomene in der Tiefe verstanden werden. Das erfordert von uns in die (innere) Beziehung zu uns selbst und zu Corona zu treten und nicht, wie bisher, in die Abgrenzung. Wir brauchen Mut für diese Begegnung und auch die Fähigkeit, die persönlichen Wunden und Traumen zu erkennen und zu (er-) lösen. Wir brauchen, diejenigen, die diesen Weg im Kleinen gehen und ihre dadurch gewonnenen Fähigkeiten für die so notwendige neue Form von Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Wir brauchen DICH! Wir brauchen jeden Einzelnen.
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Corona wird uns erhalten bleiben als DER WEG zu Menschlichkeit und gelebter Gemeinschaft
– als ein möglicher Weg zu Heilung.
Dezember 2020.
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Was im Jahr 2019 als Forschungsprojekt zum Thema Impfen begann und uns mit der Frage zurück lies, wie wir uns als Einzelne und als Gesellschaft mit dem Tod auseinandersetzen wollen, wurde April 2020 bis Februar 2022 zu einer Forschungsreise mit der Resonanz-Aufstellungsgruppe zu den Herausforderungen, die uns die Corona-Pandemie gebracht hat.
Weitere Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit flossen in diesen Artikel (Mai 2020) und in diesen Artikel (April 2020) ein.
Ausserdem gibt es Audio-Auszüge zum Thema:
Corona, die Gesellschaft und das Kollektive (1),
Corona: Die Herausforderungen für uns Menschen aus spiritueller Sicht (2),
Die gespaltene Gesellschaft – Lösungsimpulse (3),
Die geopferten Kinder oder der aussichtslose Kampf des Menschen gegen den Tod (4),
Und am Ende ist Freiheit (5).
▸ Weitere Informationen zur Teilnahme an der regelmässigen Online Resonanz-Aufstellungsgruppe