Gedanken und Erfahrungen zum Thema Mutter & Lebens-Beziehungen (2): Die unterbrochene Hinbewegung

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Dieser Text ist der zweite Teil eines Berichtes zum Forschungsprojekt Mutter & Lebensbeziehung aus systemischer Sicht und erklärt systemische Grundlagen und Erfahrungen.
Erschienen ist bereits: Die Mutter – Das Tor zum Leben
Es folgen: Vermeidung und Erfüllung – Spiritualität. Beziehung und Familie im Erwachsenenleben.

 

Unterbrochene Hinbewegung

Die innere Hinbewegung zur Mutter ist jedem von uns ins tiefste Sein gelegt. Jedes Kind hat natürlicherweise diese Zuwendung zur Mutter und möchte sich dort gehalten und gesehen fühlen. Wenn nun existentielle Erlebnisse im Leben der Mutter, diese für das (junge) Kind unerreichbar machen – z.B. bei körperlichen oder psychischen Erkrankungen, Trauma- und Kriegserfahrungen, Abwesenheit aufgrund von Krankheit oder Tod aber auch wenn eine nahestehende Person stirbt – oder wenn im Leben des Kindes selbst Existentielles vorfiel (längere Krankenhausaufenthalte, zu frühe längere Trennungen von der Mutter, Trauma-Erfahrungen u.a.), dann kann das Kind diese ursprüngliche Hinbewegung zur Mutter nicht mehr vollziehen. Die Bewegung wird “unterbrochen”.

Diese Bewegung hin zur Mutter ist so tief im Grundsätzlichen des Kindes und des Lebens selbst verankert, dass eine unterbrochene, also gestoppte Bewegung, das Kind an dieser Stelle „festbäckt“ und „unfrei“ im eigenen Leben macht. Es kann von dem Punkt nicht weg – weder Hin zur Mutter noch hin zum eigenen Leben. Das heißt: Die Art wie wir die Mutter nehmen bzw. inwieweit wir uns zur Mutter bewegen und sie nehmen können und inwieweit nicht, lässt uns im Leben erfolgreich und erfüllt sein – oder eben nicht.
Wenn die unterbrochene Hinbewegung vom erwachsenen Kind nicht nachgeholt bzw. wieder aufgenommen wird, kann es manchmal nicht gut ins eigene Leben gehen. Es erlebt Partnerprobleme, hat Schwierigkeiten bei der Familiengründung, Wohnortsuche, hat wenig Lebensfreude oder Schwierigkeiten im finanziellen und beruflichen Erfolg. Manchmal scheint das erwachsene Kind dann die Nähe zur Mutter über Verstrickung und Dableiben im Unglück zu suchen oder es entsteht sogar eine Konkurrenz zwischen der Mutter und einem potentiellen Partner.

Das klingt erst einmal sehr schicksalshaft und ausgeliefert, denn weder Mutter noch Kind sind zumeist aktiv an der Unterbrechung beteiligt und werden doch gezeichnet. Die gute Nachricht ist: Was auch immer die Gründe für die unterbrochene Hinbewegung waren, es ist möglich diese Hinbewegung wieder aufzunehmen – unabhängig davon, wie alt wir sind.

 

Wenn der Punkt der Unterbrechung wieder ins Bewusstsein geholt wird und die Hinbewegung vollendet werden kann, erfährt der Mensch, Liebe, Fülle und Vollendung.

 

Eine Möglichkeit diese Hinbewegung als Erwachsene nachzuholen ist die Aufstellungsarbeit mit Stellvertretern. Dabei stehen sich eine Stellvertreterin für die Mutter und das erwachsene Kind gegenüber und es entsteht Raum, so dass das Kind (und die Mutter) alle Gefühle fühlen kann bis der innere Ur-Wunsch nach Hinbewegung wieder einsetzt.

Wenn die Hinbewegung  nicht gelingt und er*sie in der Aufstellung steht und wartet, sich abwendet, weint, o.ä. Dann verschwindet der Erwachsene im früheren Kind, im früheren Erleben und kann das vergangene Erlebnis in sich nicht als Vergangen einordnen und die von damals gefühlten Gefühle erscheinen zeitlos und nicht (aus-) haltbar. Er*sie braucht dann Zeit, Stütze und angemessene Begleitung, dort wo er*sie gerade steht. Er*Sie muss von dort “(er-) wachsen”, um dann die Bewegung in sich zu spüren.

Diese Hinbewegung begleitet uns ein Leben lang und taucht immer wieder in Wellenbewegungen auf.

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Lebensdynamiken, die in Aufstellungen sichtbar werden, sind immer Entdeckungen und Erfahrungen der praktischen Arbeit mit Aufstellungen aus dem achtsamen, stillen Geist heraus.

Dabei hat sich gezeigt: Die Schritte führen immer vom Kind zurück zur Mutter. Manchmal wünscht sich das Kind, dass die Mutter die Schritte geht, vielleicht um den erlebten Schock und Schmerz auszugleichen. Und doch ist es das Kind, dass zur Mutter zurück muss. Nicht, weil es “mehr” tun muss als die Mutter, sondern weil die Heilung geschieht, wenn das Kind die Bewegung hin bzw. zurück zur Mutter von sich aus wieder aufnimmt und vollendet, wenn es dazu BEREIT ist.

Wenn man selbst in Aufstellungen die Mutterrolle einnimmt, ist das ganz deutlich als Stellvertreterin zu fühlen: Die Mutter steht und wartet auf das Kind. Sie macht das komplett zeitlos und intentionslos, so lange, wie das Kind eben braucht, um den Weg zurückzufinden. Diese Bewegung und ihre Vollendung ist mit das Größte, was es gibt, und ist immer zutiefst berührend für Kind und Mutter und auch für die Aufstellungsgruppe im Ganzen.

Es gibt Ausnahmen zur einseitigen Bewegung des Kindes. Zwei Beispiele:
– Wenn die unterbrochene Hinbewegung bei oder kurz nach der Geburt eintritt, kann man in Aufstellungen beobachten, dass die Hinbewegung von beiden Seiten aus wieder aufgenommen wird. Die Aufeinanderzubewegung am Lebensbeginn ist grundlegend und existentiell in uns Menschen angelegt.
– Wenn etwas Schwerwiegendes passiert ist, wenn die Mutter, die (systemischen) Rechte des Kindes verletzt hat, wird die unterbrochene Hinbewegung von beiden Seiten wieder aufgenommen. Es geht dann nicht nur das Kind zur Mutter sondern auch die Mutter zum Kind. Beim Kind bleiben jedoch die letzten Schritte. Es entscheidet ganz allein am Ende, ob und wie weit und wann es zur Mutter geht. Trotz allem hat die Mutter das Kind ins Leben geboren. In dieser Dimension bleibt das Kind sein Leben lang immer an die Mutter gebunden. Die Zustimmung zum Leben selbst ist dabei der Schlüssel für die erneute Annäherung von Kind und Mutter.

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Sehr eindrücklich kann man in Aufstellungen sehen: Die Mütter WOLLEN – egal, was war und egal, wie sie waren, egal, was sie alles nicht gegeben haben oder nicht geben konnten – sie WOLLEN, dass die Kinder das Leben nehmen und ihr Leben leben.

Wenn das Kind das Leben nimmt, macht es Mutter und Kind frei(er).

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Der Prozess, diese unterbrochene Hinbewegung wieder aufzunehmen, muss sehr achtsam und geschützt begleitet werden – damit sich das Kind weder alleingelassen noch gedrängt fühlt, gehen zu müssen. Die Hinbewegegung des Kindes gelingt dabei immer so sehr und so tief, wie es in diesem Moment in der Seele des Kindes und der Mutter möglich ist. Es braucht dabei Respekt und Annahme der inneren Erlebniswelt des Kindes, dass in seinem ganz eigenen Tempo und nur so nah zur Mutter geht, wie es zur Zeit kann. Es braucht auch Urteilsfreiheit gegenüber der Mutter, die möglicherweise nicht in allen Aspekten präsent sein kann und womöglich selbst in Not ist.
Und ein Drittes: Je mehr der Aufstellungsleiter in sich dieses Thema angesehen hat, um so urteilsfreier und wirklich Raum haltend kann er*sie hier Kind und Mutter begleiten.
Das heißt nicht, dass der Aufstellungsleiter “schuld” ist, wenn die Hinbewegung in der Aufstellung nicht stattfindet. Sondern vielmehr: Nur der Aufstellungsleiter, der um seine*ihre eigene (unterbrochene) Hinbewegung weiß, den eigenen Schmerz halten kann und mit dem eigenen Hinbewegungsprozess in Frieden “sein” kann – ob dieser nun vollendet ist oder er*sie selbst noch auf dem Weg ist – nur dieser Leiter hat genug Kraft, Geduld und innere Freiheit im Raum halten und im Begleiten einer anderen Hinbewegung. Dann muss er*sie nicht die Bewegung in der Aufstellung erzwingen oder abbrecehn, um sein*ihr eigens inneres Kind und den eigenen inneren Schmerz zu erlösen.

 

Die Hinbewegung ist wohl das Tiefste und Innigste, was man als Mensch erleben kann und es braucht den achtsamen, wertfreien Raum und eine Liebe, die nichts will, um den Prozess zu begleiten.

 

Es braucht in diesem Prozess Gegenwärtigkeit, den erwachsenen Menschen im Jetzt, der das Damalige zwar erfahren aber auch überlebt hat, und sich der Mutter somit gleichzeitig als Kind und als Person im Jetzt zuwendet. Es ist immer das Kind bzw. das Kind im Erwachsenen, das die Hinbewegung vollzieht. Der Erwachsene in uns muss aber als Bezug zum JETZT präsent sein, da sonst die Identifikation mit dem Kind von damals die Schritte unmöglich macht. Und doch gehen wir ganz als Kind. Es bleibt insofern ein Paradox.

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Dieser Text ist der zweite Teil eines Berichtes zum Forschungsprojekt Mutter & Lebensbeziehung aus systemischer Sicht und erklärt systemische Grundlagen und Erfahrungen.
Erschienen ist bereits: Die Mutter – Das Tor zum Leben
Es folgen: Vermeidung und Erfüllung – Spiritualität. Beziehung und Familie im Erwachsenenleben.
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